Es ist Muharram, der erste Monat des islamischen Kalenders, und damit für Muslime der Anbruch eines neuen Jahres. Das vergangene Jahr wird reflektiert, Ziele und Pläne für das nächste Jahr werden gesetzt und eine gewisse Vorfreude auf den frischen Wind des neuen Jahres macht sich breit. Gleichzeitig ist der Beginn dieses Monats für mich jedoch auch eine Zeit der Trauer und des Erinnerns, eine Zeit des Reflektierens und Lernens.
Im Monat Muharram ereignete sich vor ca. 1400 Jahren etwas, das als Tragödie Karbalas bekannt wurde und seither viele Menschen -auch Nichtmuslime- erreicht und berührt hat. Ich möchte euch diese Geschichte vorstellen, da sie auch mich Jahr für Jahr berührt und unheimlich inspiriert.
Ein Mann begibt sich mit seiner Familie und einigen Gefährten auf eine weitere Reise, um einer Auseinandersetzung mit dem damalig herrschenden Tyrann, welcher einen Treueeid verlangte, auszuweichen. Er folgt einer Einladung einiger Anhänger in eine entfernte Stadt und reist mit Frauen, Kindern, Brüdern und Freunden durch die Wüsten Arabiens. Durch einen Verrat der Gastgeber geraten die Reisenden in einen Hinterhalt und werden von der Armee des Tyrannen umzingelt. Der Tyrann verlangt von dem Mann den Treueeid und droht mit seiner Tötung, sollte er dies nicht tun. Der Mann verweigert jedoch den Treueeid und so wurde ihnen der Zugang zum Wasser verwehrt. Die nächsten Tage sollte der Mann miterleben, wie die Kinder unter Durst leiden und nach Wassser betteln, wie seine eigenen Brüder, Anhänger und Kinder nach und nach niedergemetzelt werden, ehe er selbst von Pfeilen durchbohrt und enthauptet wird. Sein Kopf wird dem Tyrann auf einer Lanze präsentiert und sein Tod als Sieg gefeiert. Die Frauen und Kinder werden gefangen genommen und beim Siegeszug als Beute präsentiert.
Bei dem Mann handelte es sich um Hussain ibn Ali, dem Enkelsohn des Propheten Muhammad. Dem Geliebten des Propheten, sein eigen Fleisch und Blut. Und die Menschen, die ihn töteten, waren keine Nichtmuslime, sondern verstanden sich selbst als Muslime.
Man kann aus dieser Tragödie viele Lehren ziehen, da sie aus unzähligen kleinen Geschichten besteht, die ich hier wenn überhaupt nur grob andeuten kann. Es gibt jedoch einige zentrale Lehren für alle von uns, die ich gerne teilen möchte.
Die Tragödie Karbalas zeigt zum einen, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind und wie schnell ein Mensch vom rechten Tun abkommen kann. Viele der beteiligten Soldaten kannten Imam Hussain und seine Familie, kämpften teilweise zu früheren Zeiten sogar gemeinsam für dieselbe Sache. Es macht mir immer wieder klar, wie zerbrechlich unser Selbst ist und wie demütig wir als Menschen eigentlich sein müssen. Denn wer sind wir, wenn nicht schwache und veränderliche Geschöpfe des Einen, auf Dessen Barmherzigkeit wir angewiesen sind?
Zum anderen lehrt sie mich, wie wichtig es ist, bestimmten Prinzipien wie Gerechtigkeit treu zu bleiben und sich keiner Unterdrückung zu beugen. Denn auch wenn dafür ein unglaubliches Opfer aufgebracht wurde, hat am Ende die Botschaft Hussains überlebt und viele Menschen etwas Wichtiges gelehrt: Steh für deine Prinzipien auf und sei bereit, dafür zu opfern. Schau nicht weg und beuge dich nicht, wenn du siehst, dass etwas eindeutig Unrecht ist. Erhebe deine Stimme wie Zainab, die Schwester Hussains, die als Gefangene und als erniedrigte Frau vor Tyrann und Volk ihre Stimme erhob und ihnen in einer berührenden Rede verdeutlichte, was sie getan hatten.
Die Geschichte Karbalas zeigt auch, dass es nie zu spät für eine richtige Entscheidung ist: Ein Soldat der gegnerischen Seite, der den Name „Hur“ (der Freie) trägt, konnte die Grausamkeit nach einigen Tagen nicht ertragen und bat Imam Husain um Verzeihung und Aufnahme bei sich. Er starb letztendlich bei der Verteidigung Imam Hussains durch die Hände seiner ehemaligen Mitstreiter.
Die Geschehnisse erinnern an eine zeitlose Parabel, an ein Lehrstück für den Menschen, dessen Urwesen sich bis heute nicht verändert hat. Denn zu jeder Zeit und an jedem Ort passieren derartige Tragödien, und wir haben mit unserem Handeln jeden Tag die Wahl, ob wir wegschauen und zusehen oder uns dagegen wenden, auch wenn dies Kraft kostet. Wir können und sollten uns jeden Tag dafür entscheiden, z.B. Zivilcourage zu zeigen, ausbeutende Konzerne zu boykottieren, für unsere Prinzipien und Überzeugungen trotz Gegenwind einzustehen oder schlichtweg aufrichtig zu sein.
Das Erinnern an die Tragödie Karbalas und an ihre Lehren hilft mir aufgrund ihrer Zeitlosigkeit und Aktualität dabei, mein Tun bewusster zu reflektieren und auf elementare Prinzipien wie die Gerechtigkeit auszurichten. Trotz der Trauer fühlt sich der Schmerz jedes Mal irgendwie wie eine Heilung an. Denn durch jedes Trauern, durch jedes Erinnern richtet sich mein Herz immer wieder neu aus und enthärtet sich. Und so beginne ich das neue Jahr mit heilender, lehrreicher Trauer, die mich an meine elementaren Werte und Prinzipien erinnert und sie manchmal sogar neu bildet. So zerbrich, o Herz, und lerne. Gedenke Husain, dem Enkel Muhammads, durch Schmerz und Trauer, lass dein Herz erweichen, sodass du empfänglich bleibst für Recht und Unrecht. Zerbrich, o Herz, und lerne.
Was regnet? -Blut! – Wer? -Augen! Wann? – Bei Tag und Nacht!
Warum? -Aus Gram! – Um wen? – Kerbelas Herrn voll Macht!
Wie hieß er denn? -Husain. – Aus welchem Haus? -Alis.
Die Mutter? -Fatima. -Der Ahn‘? – Muhammad hieß…
Qa’ani