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Herz, versetze Berge!

Sprachlose Gedanken, besser kann man es denke ich nicht beschreiben. Vielfältige laute und kleine, langsame und schnelle, wütende, hoffnungsvolle und traurige Fetzen, die in meinem Kopf herumschwirren, alle gehört und berücksichtigt werden wollen. Sie haben gemeinsam eine riesige Blockade gebaut und mich sprachlos, ausdruckslos zurückgelassen. Jedes Mal, wenn ich die Tür des Schreibens zu öffnen versuchte, wenn ich auch nur einen Finger auf der Tastatur zu krümmen versuchte, war sie verschlossen von jener erdrückenden Hemmschwelle, die mein Ausdrucksbedürfnis in einer riesigen Hemm-Welle ertränkte. Und so sitze ich hier, ein weiteres Mal von ungemein vielen Gefühlen und Gedanken berührt, gegen sie kämpfend und sie entwirren wollend- sie verstehen und ausdrücken wollend. Und just in diesem Moment geht es los:

„Du beginnst wieder mit deinen eigenen, irrelevanten Gefühlen, während in Gaza die Hölle los ist?“
„Mit welchen Worten willst du der aktuellen Situation im Ausdruck gerecht werden?“
„Wenn du auf die Lage im Libanon aufmerksam machst, untergräbst du das wesentlich höhere Leid in Palästina.“
„Für wen oder was schreibst du eigentlich?“
„Was ist mit den ganzen anderen unterdrückten Menschen im Sudan, in Kongo usw.?“
„Worte sind unzureichend für all diesen Wahnsinn auf der Welt.“
„Schreib nicht!“

Doch ich muss irgendwie schreiben. Ich halte diese Sprachlosigkeit nicht mehr aus, es macht mich wahnsinnig! Und wenn ich momentan nicht viel ausdrücken kann, so will ich zumindest über diese riesige Hemmschwelle schreiben, über diesen beängstigenden, unendlich hohen Berg voller grausamer Nachrichten, voller Erinnerungen an die Heimat, voller Trost und Hoffnung, voller Schreie, Umarmungen und wärmenden Tränen- voller lauter Gegensätze, die sich gegenseitig bekämpfen auf dem Schlachtfeld meines Herzens- und mich ein weiteres Mal zur Beobachterin machen. Immer wieder droht mich dieser Berg zu erschlagen, mich mit all seiner Masse zu erdrücken, weil er nicht verstehbar, nicht abbaubar ist wie er es früher immer war.

Wie kann ich dich verstehen, o Herz? Wie konnte es in dir so verworren werden? Aber auch: Wie könnte ich dich nicht verstehen? Wie könnte ich diesen ambivalenten Haufen aus gemischten Gedanken und Gefühlen in dieser schrecklich ambivalenten Zeit nicht verstehen? Ich verstehe ihn- aber ihn nicht lösen zu können, schmerzt. Es drückt. Es pocht. Es schmerzt so sehr, dass es brennt.

Brennen. Ein Begriff, der sich seit gestern wortwörtlich eingebrannt hat.
Beim Erhabenen, mein Text ist es nicht würdig, dieses Wort zu nutzen. Was weiß ich schon, wie es sich anfühlt, zu brennen? Dieses Wort gehört den Menschen, die dieses qualvolle Schicksal selbst erlitten haben. Es gehört den Patienten in Gaza, die gestern bei lebendigem Leibe qualvoll von den Flammen verschlungen wurden, während ihnen nicht geholfen werden konnte. Es gehört ihren abwehrenden Bewegungen, ihrer schmerz-versteiften, verkohlten Hand, die durch den Bildschrim hindurch um Hilfe schreit. Das Echo dieses Schreis- es hat ein Erdbeben in meinem Herzen ausgelöst.

Mein Herz bebt, es bebt so bitterlich. Es bebt und möchte den Berg der Ohnmacht in mir zerstören, es möchte ausbrechen aus all diesen Strukturen, all diesen Ungerechtigkeiten, all diesen Manipulationen der westlichen Welt und aus all den Gemütlichkeiten des eigenen Egos. Flieh, o Herz! Nimm den Stift und schreibe, o Herz!

„Wie soll ich schreiben, wenn andere durch den Stift Lügen verbreiten? Wie soll ich atmen, wenn unsereins ächzend ihren letzten Atemzug macht? Wie soll ich mein glühendes Herz in Zaum halten, wenn das Herz anderer ignorant und kalt wie ein Stein ist? Wie soll ich menschlich bleiben in Anbetracht dieser unbeschreiblichen Unmenschlichkeit? Wie soll ich laut sein, wenn meine Schreie auf Wände stoßen und ungehört zurückehren?“

„Gerade jetzt und genau deshalb- sei genau all das! Schreibe, um Wahrheit zu verbreiten, wehre dich. Atme, um all jenen zu gedenken, denen es verwehrt wurde. Lass dein Herz glühen und verteile Funken der Empathie, sodass im Kleinen vielleicht ein Feuer der Solidarität entsteht, das wiederum andere entfacht. Sei barmherziger, bescheidener und hilfsbereiter denn je zuvor- welch besseren Widerstand gibt es gegen das Unmenschliche? Was zeigt Resilienz besser als die bewusste Abgrenzung vom Boshaften und Unmoralischen, die lachende Erhabenheit über die Hässlichkeit und Erbärmlichkeit der Unterdrücker, die mit größter Mühe versuchen, dieses Lachen zu ersticken? Gib deiner Stimme eine Chance, denn auch sie ist Teil des Ganzen; Sie ist von Gott selbst, dem Erhabenen, gegeben, sie ist Teil der menschlichen Einheit. Ob der taube Mensch möchte oder nicht- sie wird früher oder später ihren Weg in das Bewusstsein der Menschheit bahnen, sie wird sich in dein eigenes Bewusstsein bahnen, sie wird Teil von dir und ein Fürsprecher sein.“

„Und schließlich: Vergiss nicht Gott, den Erhabenen. Erhaben über alles Gute und alles Schlechte. Erhaben über alle Seelen, erhaben über alle Geschehnisse. Gott, Der Gerechte, Der Gerechtigkeit Bringende. Der Allmächtige, Allweise, Allgnädige. Gott, Der ins Leben Bringende und das Leben Nehmende, Der über alles Herrschende und uns Erziehende. Der uns näher als nah ist und in ständiger Kommunikation mit uns steht; Der Barmherzige, tausendfach Beschenkende, Der Liebende. Unsere Existenz, unser Potential, unser Leid und unsere Freude ist Seine Gnade an uns, Seine Einladung an uns, Ihm näherzukommen. Er ist die Zuflucht, Er ist das Seil, an dem wir festhalten müssen. Er ist das absolut wahre Prinzip, an dem wir festhalten, die absolute Existenz, die wir selbst sind. Alles vor Seinem Antlitz verliert an Schwere, verliert an Bedeutsamkeit. Und alles in Seiner Absicht gewinnt an Sinnhaftigkeit, gewinnt an Bedeutsamkeit.“

Bebe, o Herz. Doch verinnerliche das, was du schon tausendfach aufgenommen, tausendfach verstanden hast: Du bist nicht allein. Die Menschen in Gaza sind nicht allein. Alle Unterdrückten Menschen sind nicht allein. Ihr Leiden ist nicht umsonst. Unser Leiden ist nicht ungehört. Wahrlich, mit der Erschwernis kehrt die Erleichterung ein. In der Erschwernis liegt Gnade und Erleichterung. Mögen wir es ganz bald erkennen und verinnerlichen. Mögen unsere Herzen frei sein- frei von Zwängen, frei von Sorgen, frei von Unwahrheit. Mögen unsere Herzen in geduldiger Überzeugung beben- und mit allen Mitteln Berge der Ohnmacht versetzen.

Ein Gedanke zu „Herz, versetze Berge!“

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