Das letzte Wochenende war in zweierlei Hinsicht besonders: Ich durfte einen beeindruckenden Ort Deutschlands und die besondere Lebensweise seiner Menschen kennenlernen. Einige Erlebnisse und Gedanken hallen noch immer nach und warten sehnsüchtig darauf, geteilt zu werden.
Gemeinsam mit anderen muslimischen Studenten verbrachte ich das Wochenende in einem benediktinischen Kloster, genauer gesagt in der Erzabtei Beuron im Süden Baden-Württembergs. Nach einigen Stunden Fahrt empfing uns das Donautal mit seinen prächtigen Bergen und grünen Wäldern und offenbarte uns den Blick auf einen riesigen, hellen Gebäudekomplex, der durch das Licht der Sonne inmitten des sonst relativ naturbelassenen Tals regelrecht leuchtete. Schon von Weitem waren wir beeindruckt von der Größe und der einzigartigen Lage des Klosters. Es war zweifellos kein Zufall, dass die damaligen Landsherren einen solchen Ort auswählten- inmitten unberührter Natur, umgeben von felsigen Bergen und einer beeindruckenden Ruhe hatte man eine ganz eigene Welt gefunden und geschaffen.
Das ursprüngliche Kloster wurde vor mehr als 1000 Jahren erbaut und diente damals als Chorherrenstift, also als Lebensort für Priester, die in diesem Fall zum Orden der Kanoniker gehörten und nach den Regeln des heiligen Augustinus lebten. Es gibt vor allem in der römisch-katholische Kirche eine Vielzahl an Orden bzw. „Kongregationen“, die sich in der Art der Lebensweise unterscheiden. So orientieren sich die heutigen dort ansässigen Benediktinermönche an den Regeln, die der heilige Benedikt aufgestellt hatte.
Dem Begriff „Kongregation“ begegneten meine Mutter (sie war auch dabei) und ich zeimlich unfreiwillig und unerwartet nach unserer Ankunft. Zunächst wurden wir von zwei Patern herzlich empfangen und zu unseren Zimmern im Gästeflügel des Klosters gebracht- was neben einigen anderen Dienstleistungen ein Punkt ist, mit dem sich das Kloster weitgehend selbst finanziert. Da wir noch Zeit hatten, erkundeten wir das Klostergelände und spazierten zur Kirche, die an das Kloster angehängt ist: ein großes, sandsteinfarben gestrichenes Gebäude mit einer Vielzahl an Säulen, die den Eingang verzieren. Wir saßen uns auf eine Bank und sprachen ein wenig über das Gebäude, als sich ein älterer, sportlicher Mann neben uns stellte, um sein abgestelltes Fahrrad aufzuschließen. Er schaute uns an und fragte dann: „Welcher Kongregation gehören Sie an?“ Wir waren etwas perplex, bis schließlich meine Mutter antwortete, dass wir Muslime sind. „Sind Sie konvertiert?“ fragte er als nächstes sichtlich negativ überrascht. Meine Mutter, die konvertiert ist, bejahte, woraufhin der Mann eine kurze Diskussion mit ihr darüber begann, dass solche Fälle selten seien und Konversionen in die andere Richtungen häufig vorkommen würden oder aus Angst vor Verfolgung nicht offen gezeigt werden. Eine seiner Aussagen ist mir besonders hängen geblieben: „Ich habe den Koran gelesen. Und da fehlt einfach die Liebe, da ist keine Liebe drin“, sagte er abschätzig und ließ sich auch nicht davon abbringen, als wir mit ihm die Diskussion suchten. Letztendlich wünschten wir ihm einfach einen schönen Tag und beließen es dabei, da er offensichtlich nicht offen für ein Gespräch war. Vermutlich hatte es ihm so schwer zugesetzt, dass er auf einem Klosterglände vor der Kirche zwei muslimische Frauen sah, die wie Nonnen einer „exotischen“ Kongregation gekleidet waren und so selbstverständlich über Gott sprachen, dass er einfach überfordert war. Schade- ausgerechnet ein solcher Ort, der Werte wie Nächstenliebe und Verständnis so stark betont, wurde zum Schauplatz eines unschönen Ereignisses, das genau dem Gegenteil dieser Werte entsprang. Andererseits fand ich es auch irgendwie lustig und schön, dass man uns mit unseren langen Kleidern und Kopftüchern als katholische Nonnen wahrnahm. Man fühlte sich dadurch auch irgendwie ein bisschen „zuhause“. Das sollte auch nicht das letzte Mal sein: an einem anderen Tag kam eine junge Frau auf meine Mutter zu und fragte, wie man zur Kirche kommt. Nachdem meine Mutter ihr den Weg schilderte, deutete die Frau auf ihr ärmelloses Top und fragte unsicher, ob sie so in die Kirche hineingelassen wird. Ich ärgere mich immer noch ein bisschen, dass ich nicht dabei war- eine unheimlich lustige und irgendwie absurde Situation.
Auch wenn ich keine Christin bin, fand ich das Wochenende sehr lehrreich. Es war inspirierend zu sehen, wie Menschen leben, die sich einer bestimmten Lebensweise verschrieben haben. Es waren manchmal auch kleine Dinge wie ein kurzes Tischgebet vor und nach dem Essen, das gemeinsam gesprochen wurde. Das für die Mönche obligatorische Schweigen vom Abend bis zum nächsten Morgen. Oder die bodenlange, mehrschichtige Kleidung, die täglich trotz Hitze getragen wurde. Verpflichtend für die Mönche sind auch mehrmals am Tag unterschiedliche Gebete, die in der Kirche gehalten werden. Anders als im Islam gibt es im Christentum aber prinzipiell keine fest vorgeschriebenen Gebetszeiten, sie werden von den jeweiligen Orden oder Klöstern selbst bestimmt. Ein Pater erwähnte während seiner Erklärung der Gebetszeiten über das Mittagsgebet, dass es extra auf den Mittag gesetzt wurde, weil es eine Zeit ist, in der der Mensch besonders träge ist. Um genau diese Trägheit zu überwinden und auch in dieser Zeit sich auf Gott zu besinnen, soll der Mensch sich aufraffen und noch einmal in sich kehren. Interessant war auch, was die Mönche außerhalb der Gebetszeiten tun: Essentiell ist das Lesen bzw. die Beschäftigung mit geistlicher Literatur, um Wissen zu erlangen. Dafür sind täglich feste Zeiten eingeplant. Damit die Glaubensüberzeugung aber nicht nur „im Kopf“ bleibt, sondern auch gelebt wird, gibt es täglich auch feste Zeiten für (handwerkliche) Arbeit in verschiedenen Bereichen: im eigenen Kunstverlag, in der Gästebetreuung, im Selbstversorger-Garten, in der Imkerei oder Buchhandlung. Auch diesen Gedanken fand ich sehr schön, und er erinnerte mich an das koranische Prinzip, dass Glaube auch immer mit (guten) Taten einhergeht. Im Koran wird oft von jenen gesprochen, die glauben und gleichzeitig auch Gutes oder Richtiges tun.
Generell war es auch sehr beeindruckend, wie organisiert und unabhängig das Kloster ist. In meinem Kopf schwebte mir direkt die Idee vor dem Auge, dass muslimische Institutionen und Gemeinden sich davon inspirieren lassen könnten, um finanziell besser aufgestellt zu sein und auch Fuß zu fassen in der Gesellschaft. Beispielsweise durch das Anbieten von Gästezimmern, die Errichtung von Solarpanelen, die Produktion von Honig oder anderen Angeboten und Dienstleistungen. In diese Richtung könnten wir uns als muslimische Community definitiv noch weiter nach vorn bewegen.
Und ehe man sich versieht, war das Wochenende auch schon um. Ich könnte eigentlich noch einiges erzählen, beispielsweise über die anderen Klostergäste, die uns größtenteils neugierig und erfreut anschauten. Einige von ihnen fragten uns auch über den Grund unserer Reise, andere waren zögerlich und wussten glaube ich nicht so recht, ob wir jetzt nun Muslime sind oder doch eine unbekannte katholische Kongregation. Oder über den einzigartigen, an ägyptischer Malerei angelehnten Kunststil der „Beuroner Kunstschule“, den man sowohl in Teilen der Kirche als auch im Kloster selbst bewundern kann. Und natürlich über die wirklich atemberaubende Natur, die das gesamte Kloster umgibt und wie eine Mauer vor äußeren Einflüssen dieser Welt schützt
Alles in allem war es sehr inspirierend und hat mir auch noch einmal etwas über mich selbst gelehrt: Auch wenn mir einiges bis zum Schluss fremd blieb und ich natürlich einige Punkte der christlichen Überzeugungen nicht teile, so hatte ich zum Ende das Gefühl, dass in mir eine „christliche Ader“ fließt- denn einiges fühlte sich heimisch an und viele Gebetstexte gehen mir nah ans Herz, habe ich gemerkt. Vielleicht habe ich eine besondere Bindung aufgrund meiner christlichen Vorfahren. Oder vielleicht auch aufgrund der Sprache, in die diese Religion bereits schon seit Jahrhunderten gegossen ist und auch jene ist, in der ich fühle und denke. Oder vielleicht auch schlichtweg, weil auch in dieser Religion der Islam und seine Ursprünge – auch Gott- zu finden ist.
Gerne hätte ich dem Mann mit dem Fahrrad ein Zitat Goethes aus dem west-östlichen Diwan mitgegeben:
„Wenn Islam ‚gottergeben‘ heißt, / im Islam leben und sterben wir alle.“