Gibt es so etwas wie Zufälle? Oder geschehen all die Dinge um dich herum aus einem bestimmten Zweck? Sind sie vielleicht Botschaften, die sich in Zufallskostümen verstecken und darauf warten, erkannt zu werden?
Ich habe bis vor nicht allzu langer Zeit jene Menschen belächelt, die sagten, Zufälle gäbe es nicht. Die moderne Physik sagt ja ganz klar, dass zumindest auf der Ebene mikroskopischer Prozesse zufällige Ereignisse existieren und auf ihnen sogar letztendlich alle makroskopischen Prozesse basieren, da alle Materie aus Atomen aufgebaut ist. Man könnte meinen, dass die Wissenschaft an dieser Stelle einfach noch nicht weit genug ist und bestimmte Prozesse als zufällig erscheinen, da es noch weitere, unentdeckte Einflussgrößen, also Variablen gibt. Dieser Meinung war auch Albert Einstein. Die heutige Physik geht jedoch davon aus, dass echter Zufall existiert, da die Theorie der Quantenphysik eine gewisse Ungleichung verletzt, die normalerweise von deterministischen Theorien erfüllt wird. Aus der Verletzung dieser Ungleichung lässt sich schließen, dass das Hinzufügen von verborgenen Variablen den Zufallscharakter von Prozessen in der Quantenphysik nicht beeinflussen kann. Viel mehr kann ich auch nicht dazu sagen, da wir solche spannenden Fragen leider nie im Physikstudium behandelt haben. Im Großen und Ganzen habe ich also bis vor Kurzem nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass vermeintliche Zufälle vielleicht doch keine Zufälle sind.
Und hier möchte ich zwei Erlebnisse schildern, die mir zumindest in einer gewissen Hinsicht verdeutlicht haben, dass in allem, das um uns herum geschieht, eine Botschaft steckt oder stecken kann. Und dass es oftmals Zufälle sind, in denen sich solche Botschaften und Zeichen zeigen. Ich meine hierbei Zeichen und Botschaften, die man als gläubiger Mensch mit Gott verbindet. Eine Aufforderung, ein Hinführen Gottes zu etwas, das mich weiterbringen wird. Oder eine Antwort auf eine Frage. Natürlich muss das nicht immer der Fall sein, aber ab und zu hatte ich Momente, in denen der Zufall so groß war, dass ich nachzudenken begann.
Das erste Ereignis dieser Art erlebte ich vor ca. drei Jahren, als ich in den Semesterferien in die Buchhandlung der Universität ging, um mir einen Block zu kaufen. Zu diesem Zeitpunkt war ich seit einigen Monaten Teil eines Lesekreises, der unterschiedlichste Themen behandelte. Aktuell hatten wir ein neues Thema angefangen, nämlich die mystische Poesie. In diesem Zusammenhang fiel auch zum ersten Mal der Name Friedrich Rückerts- ein Orientalist, der nicht nur Werke der mystischen Dichtung ins Deutsche übersetzte, sondern auch große Teile des Korans in poetischer Sprache übersetzte. Das Thema hat mich von Beginn an sehr berührt und mich dazu gebracht, mich eingehend mit der islamischen Mystik zu befassen. Ich habe ziemlich schnell gemerkt, dass dies genau das ist, das ich jahrelang in vielen Gemeinden und bei vielen Menschen vermisst habe, nämlich der Fokus auf die spirituellen und tiefgründigen Seiten des Islams.
Jedenfalls ging ich an besagtem Tag in die Buchhandlung, kaufte mir einen Block und entdeckte die ungewöhnliche Ausstellung antiker Bücher, die zum Verkauf angeboten wurden. Es stellte sich heraus, dass die Universitätsbibiothek einige nicht benötigte Bücher aussortiert hatte und in der Buchhandlung zum Verkauf anbot. Ich habe eine große Schwäche für alte, prachtvoll gebundene Bücher und bin also zu dem Büchertisch gegangen. Es war nicht mehr viel übrig, der Tisch war fast leer geräumt. Nur noch einige einzelne Bücher lagen dort und zwei mehrteilige Gesamtwerke. Mich hat direkt zu Beginn eines der beiden mehrteiligen Gesamtwerke sehr angesprochen, da es optisch und handwerklich wunderschön gemacht war. Ich ging also hin und schaute mir an, um wessen Gesamtwerk es sich handelte. Und siehe da, es war das Gesamtwerk von Friedrich Rückert- jenem Orientalisten, den ich die Tage zuvor sehr zu schätzen gelernt habe und der mir einen ersten, wunderschönen Einblick in die Mystik ermöglichte. Ich zögerte keinen Moment und ließ den Band reservieren, um ihn einen Tag später abzuholen.
Auf den ersten Blick mag dies kein allzu großer Zufall sein. Es kann schon mal passieren, dass die Universität Bücher aussoriert. Und da den meisten Menschen Rückert wohl nichts sagt, ist es vermutlich auch nicht erstaunlich, dass genau diese Werke vor mir keinen Käufer gefunden haben. Aber für mich persönlich fühlte es sich in diesem Moment sehr besonders an. Und vor allem rückblickend habe ich das Gefühl, dass es eine Einladung Gottes war, mich mit diesem Thema näher zu beschäftigen. Denn jetzt kann ich sagen, dass mich Rückerts Werke nachhaltig geprägt und beeinflusst haben. Nicht unbedingt, weil es gerade Rückert war, der sie übersetzte, sondern aufgrund des Inhaltes und der Sensibilität, mit der ein Schriftsteller des 19. Jahrhunderts an das Gedankengut einer damals fremden Kultur und Religion herangegangen ist. Es ist nahezu eine Schande, dass er in Deutschland kaum Erwähnung findet. Ich bin jedenfalls sehr dankbar, ihn kennen zu dürfen, denn ich habe durch ihn viel über die mystische Dichtung gelernt.
Das zweite Erlebnis ist gleichzeitig der Grund, weshalb ich überhaupt diesen Eintrag schreibe, denn es ist mir erst heute passiert. Und es hat mich so sehr inspiriert, dass ich nun hier sitze und meine Gedanken dazu niederschreibe.
Ich habe mir seit Neustem vorgenommen, den Freitag zu nutzen, um mich eingehender mit meiner Religion zu beschäftigen. Ich habe nämlich in Bezug auf basale Dinge wie Biografien bedeutsamer Personen, wichtige Ereignisse und grundlegende Kenntnisse einige Lücken, die ich unbedingt füllen möchte. Gestern abend fragte ich mich also, mit was ich mich befassen kann. Da ich mir vorher nicht überlegt hatte, wie man systematisch an die Sache herangehen kann, habe ich ein wenig über den anstehenden islamischen Monat Sha’ban recherchiert und hier und da ein paar Kleinigkeiten nachgeschlagen. Ich erinnerte mich daran, dass ich einige Wochen zuvor eine Videoreihe zum Thema Irfan (bzw. Sufismus/Mystik) begonnen hatte und nahm mir vor, einen Vortrag anzuhören. Ich klickte aus Lust und Laune den letzten Teil der Reihe an, da die meisten Teile thematisch unabhängig voneinander sind und mich interessierte, was Inhalt des letzten der acht Vorträge ist. Dieser wurde nämlich weder durch den Titel noch durch die Beschreibung ersichtlich. Und da das Ganze bereits vor sieben Jahren veröffentlicht wurde, konnte es sich auch nicht um aktuelle Themen handeln.
Also begann ich, den Vortrag anzuhören und den bedachten Worten des Gelehrten zu lauschen. Es ging um die spirituellen Lehren, die wir aus der Himmelsfahrt (Mi’raj) des Propheten ziehen können und inwiefern bzw. wie die metaphorische Sprache der Überlieferungen interpretiert werden könnte. Ich folgte dem Vortrag für eine halbe Stunde und war dann so müde, dass ich mich schlafen legte. Am nächsten Tag erreichten mich zu meinem Erstaunen mehrere Nachrichten, die darüber berichteten, dass heute Nacht der Jahrestag der heiligen Isra- und Mi’raj-Nacht ist. In dieser Nacht soll der Prophet Muhammad sws. durch Gottes Hand von Mekka nach Palästina gereist und daraufhin in die sprituellen Sphären des Himmels bzw. Gottesreichs -so eine Interpretation- gestiegen sein.
Ich war ziemlich sprachlos und bekam eine Gänsehaut, als ich bemerkte, welch ein Zufall das war. Denn ich war mir weder bewusst, dass die Mi’raj-Nacht bevorstand (wie gesagt, ich habe einige Lücken aufzufüllen) noch wusste ich, welches Thema mich in dem Vortrag des Gelehrten erwartete. Für viele mag das vielleicht unglaubwürdig klingen, aber auch hier hatte ich ein unbeschreibliches Gefühl in der Brust, das mir sagte, dass dies eine leise Botschaft, eine Einladung meines Herrn war, der mich auf die schönste Art und Weise auf das vorbereitete, das bevorstand. Und mir gleichzeitig eine Antwort auf mein verworrenes und unstrukturiertes Suchen gab.
Selbst jetzt sitze ich mit tränengefüllten Augen hier und versuche, Worte und Erklärungen für dieses Gefühl zu finden. Doch es scheint mir, als ob nicht alles auf der Welt durch angemessene Worte, Zahlen oder Formeln ausgedrückt werden kann. Da ist noch eine andere Sprache, die sich an manchen Tagen sichtbar macht: Eine nicht fassbare Sprache, deren Zunge dein Herz ist und deren Klang nur Gott kennt. Eine Sprache, die wie ein Flüstern aus den Tiefen deiner Selbst kommt und dich einlädt zum Liebenden. Denn Er ist immer da und wartet auf dich. Es fällt mir oft schwer, das Flüstern inmitten des ganzen Lärms zu hören. Und es fällt mir schwer, das Wesentliche in all der Vielfalt zu erkennen. Und demnach bin ich angewiesen auf die Barmherzigkeit meines Herrn, der mir für einen Moment die Ehre erweist, Sein Gast zu sein.
Und so hoffe ich, auch heute Nacht Sein unverdienter Gast zu sein.
Wow, lange nicht mehr so fesselnde Worte gelesen. Danke! 😘
Das freut und ehrt mich, danke vielmals!
Schöne Gedanken, Shirin 🙂
Wie schön, das von dir zu hören, Sophie! Das ehrt mich… Danke dir! 🙂